Vor Ort · In der Einsamkeit Gott suchen

Selbstverwirklichung als Eremitin

Eremit oder Eremitin zu sein, gehört zu den ältesten Berufungen des Christentums. Der Begriff aus dem Griechischen „eremites” bedeutet Wüstenbewohner und meint jemanden, der in der Einsamkeit die Begegnung mit Gott sucht. In einer Zeit, in der viele ihre Selbstwirksamkeit oder gar die Bestätigung ihrer Wirklichkeit in Social Media, im Gesehenwerden oder im beruflichen Erfolg suchen, erscheint der Weg in die Einsamkeit zumindest als unerwartetes Gegenprogramm. Annette W. aus dem Bistum Augsburg ist auf dem Weg zum eremitischen Leben und wir haben uns mit ihr über das Thema Selbstverwirklichung unterhalten.

von Raphael Schadt · 22.03.2022

Ikone Seraphim von Sarvo vor seiner Eremitage mit einem Bär
Der Heilige Seraphim von Sarow war einer der bekanntesten russischen Mönche und Mystiker der Orthodoxen Kirche im frühen 19. Jh.. Über längere Zeiten hinweg lebte er als Eremit. Hier ikonisch beim Brot-Teilen mit einem Bär. Bild: kaidor, commons.wikimedia.org, C0.

Credo: Wie kam es dazu, dass Sie den Weg des eremitischen Lebens eingeschlagen haben?

Das ist ein sehr langer Prozess gewesen. Um ihn in Kürze darzustellen zu können, blicke ich dabei auf einige wesentliche Stationen meines Lebens zurück, die, wie ich meine, die Gleise für mein Leben als Eremitin gelegt haben.

In meiner Familie spielte das religiöse Leben eine untergeordnete Rolle. In die Kirche sind wir nur zu besonderen Anlässen wie Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen gegangen und an Weihnachten. Als kleines Kind wurde ich allerdings sehr hellhörig, wenn es um den „lieben Gott“ ging. Wenn ich ein Gebet aufschnappte, zum Beispiel beim Morgengebet in der Grundschule, prägte ich es mir sofort ein. Ich stellte mir eine Litanei zusammen, die immer umfangreicher wurde. Diese betete ich dann ganz für mich alleine, sozusagen im Geheimen. Der „liebe Gott“ war mein Gesprächspartner, von dem ich mich stets verstanden und geliebt wusste.

An einem Nachmittag, ich war 15 Jahre alt, beschloss ich, nicht mehr an Gott zu glauben, das Beten einzustellen und mich scheinbar Interessanterem und Aufregenderem zuzuwenden. Nach dem Abitur zog es mich in die Großstadt. Dort wollte ich endlich das „wahre Leben“ entdecken, darin eintauchen und damit mich selbst finden. Irgendetwas faszinierte mich immer: neue Lebensformen und Ideologien, außergewöhnliche, gewöhnliche, ungewöhnliche Menschen, Freundschaften, Demos, Partys etc …

Credo:  Und was hat Sie dazu bewogen, sich dem Glauben wieder zuzuwenden?

Bei all dem hat mich immer die Frage begleitet: Was ist der Sinn meines Lebens? Wofür lebe ich? Gibt es noch etwas? Und ja, es schien noch etwas zu geben. Nicht etwas, sondern jemand: GOTT! „Am Anfang musst Du nur Ja sagen“, hat mir damals ein gläubiger Freund geantwortet, als ich ihm nach jahrelangem Suchen nach dem „wahren Leben“ die Frage stellte: „Und – was muss ich tun, um zu Gott zu kommen?“

Diese „Ja“ habe ich eines Tages allein und ganz bewusst in meiner Wohnung zu Gott gesprochen. Von da an ist mein Leben in einer völlig anderen Bahn verlaufen. Ich habe immer mehr erkannt: Jesus Christus ist das wahre Leben. Ich konnte mit dem Heiligen Augustinus sprechen: „Unruhig ist mein Herz bis es ruht in Dir, Du mein Gott.“

Zur richtigen Zeit lernte ich die passenden Leute, Christen unterschiedlicher Konfessionen, kennen, die mir geholfen haben, im Glauben und in der Liebe zu Jesus Christus zu wachsen.

Credo: Aber jetzt als Eremitin zu leben, das ist ja schon eine besondere Berufung, oder?

Ich glaube, eine Berufung kann man letztlich nicht erklären. Ich spürte, mein Leben möchte ich nur in der ausschließlichen Bindung an Jesus Christus leben. Die Frage war jetzt: Wie, wo und mit wem? Ich entschied mich für die Katholische Kirche und begann sie zunehmend zu lieben und mich in ihr zu beheimaten.

Viele Menschen haben mich begleitet und haben mit mir um den Weg gerungen – der, von dem ich glaube, dass Gott ihn mir zugedacht hat. Und so hat sich die Berufung zu einem kontemplativen (beschaulichem) Leben herausgebildet. Ich besuchte Gemeinschaften, lebte auch längere Zeit bei Schwestern in einem Kloster mit strenger Klausur, immer mit der Frage: „Herr, wie kann ich Dir am besten dienen?“ Schließlich habe ich angefangen, mich für ein eremitisches Leben zu interessieren, lernte auch Eremitinnen und Eremiten kennen und verbrachte auch einige Wochen in einer Eremitage. So klärte sich nach und nach die Berufung zur Eremitin.

Ikone Christus und Abbas Menas
Christus und Abu Menas, Louvre, Paris. Der heilige Menas, gestorben um 300, war der Legende nach einer der frühen Wüsteneremiten. Diese koptische Ikone aus dem sechsten Jahrhundert drückt die Ruhe des auf seinen Herrn hörenden Eremiten aus. Christus mit dem Evangelium begleitet Menas auf seinem Weg wie ein Freund. Das wird auch durch die Handauflegung Christi auf Menas Schulter ausgedrückt.

Credo: Eremitisch zu leben entspricht ja nicht den geläufigen gesellschaftlichen Vorstellungen von Selbstverwirklichung. Ist es für Sie Selbstverwirklichung? Und wenn nicht, wen oder was verwirklichen Sie durch Ihren Lebensstil?

In den Jahren, in denen ich meinte, Gott aus meinem Leben ausklammern zu müssen, war das Thema Selbstverwirklichung hoch aktuell. Ich habe damals immer mehr und immer woanders etwas gesucht, das mein Dasein, mein Ego bestätigen sollte. Nach etwas, das mir Erfüllung und Selbstbestätigung geben sollte. Ich schaute nach immer neuen Vorbildern aus, etwa nach interessanten Menschen, nach Ideologien. Diese wurden dann oft zu Götzen – für eine bestimmte Zeit – bis sie letztlich zu neuen Frustrationen führten.

Erst in der Hinwendung zu Gott, in der Übergabe an Ihn, fand ich endlich den inneren Frieden und zu meinem Selbst, das sich nichts beweisen und sich nicht selbst zur Quelle des Lebens machen muss. Es empfängt aus der Quelle, die Gott ist und die aus der Selbstverfangenheit löst. Das war und ist natürlich ein Prozess.

Um Ihre Frage zu beantworten, ja, das Leben mit Gott, in meinem Fall das Leben als Eremitin, ist für mich Selbstverwirklichung. Es ist ein radikales Einlassen auf Gott, um zum wahren Selbst und damit zum wahren Leben zu kommen, um es verkürzt zu sagen.

Credo: Wie kann man sich konkret Ihren Tagesablauf vorstellen?

Ich lebe nach der von mir erstellten und vom Bischof bestätigten Lebensregel. Darin wechseln sich Gebet mit Haus- und Handarbeit ab, wobei ersteres Priorität hat. Ich pflege die allgemein bekannten Gebetsformen der Kirche, wie Stundengebet, Rosenkranz und Betrachtungen der Heiligen Schrift, aber auch das schweigende kontemplative Gebet und als Höhepunkt allen Betens die Heilige Messe und die Eucharistische Anbetung. Der Tag beginnt um 4.30 Uhr und endet um 21.30 Uhr. Da eremitisches Leben nicht Isolation bedeutet, bin ich auch zu bestimmten Zeiten zu Gesprächen mit Menschen erreichbar.

Zur Überprüfung und um vor Täuschungen bewahrt zu bleiben, bin ich regelmäßig mit meinem geistlichen Begleiter im Gespräch. Ebenso bin ich mit dem Bischof bzw. mit seinem Vertreter in Kontakt.

Credo: Und was ist der Sinn, so in der Einsamkeit zu leben?

Ich denke, es geht darum, in der Einsamkeit, Raum zu schaffen, um zu einer immer tieferen Beziehung zu Christus zu gelangen. Zum „Lobe Gottes und zum Heil der Welt“ lebt der Eremit, so heißt es im Kirchenrecht. Mein Leben sehe ich eingebunden in die „Solidargemeinschaft Kirche“ als der eine Leib mit vielen Gliedern, die sich gegenseitig ergänzen, wie es der Heilige Paulus gesagt hat.

In dieser „Solidargemeinschaft“ erbitte ich die Umkehr der Herzen derer, die verirrt, verwirrt und fern von Gott sind. Denen möchte ich in meinem schlichten Gebet vor Gott eine Stimme geben, die selbst nicht beten, oder nicht mehr beten können. So dienen wir einander mit den je eigenen Gaben und Aufgaben, ob in der Welt in Familie oder Beruf, im Kloster oder als Eremiten. Da gibt es keine Wertung, etwa, dass die eine Lebensform wichtiger oder kostbarer wäre als die andere. Wichtig ist, dass wir gemeinsam Kirche leben, je nach der eigenen Berufung in der Gewissheit: „Wer glaubt, ist nie allein“ um mit den Worten von Papst Benedikt zu sprechen.

Credo: Vielen Dank für das Gespräch.