Vor Ort · mit der Wahrheit zurück in die Wirklichkeit

Lügen, die ich glaubte

Manchmal passiert es, dass wir vor lauter Zweifel und negativen Gedanken über uns, beginnen an Lügen zu glauben. Es kann so weit gehen, dass sie unseren Alltag beeinflussen und somit Teil unserer Wirklichkeit werden. Diese Erfahrung habe ich während meines Studiums zum Gebärdendolmetschen gemacht. Durch Leute von außen, die mir einen Spiegel der Wahrheit vorgehalten haben und der Verbindung zu Gott, habe ich es geschafft zu lernen, mit diesen Lebenslügen umzugehen. 

von Ruth Piegsa · 16.03.2022

Junge Frau, die sich in Gebärdensprache unterhält
Junge Frau, die sich in Gebärdensprache unterhält. Symbolbild: Pexels.com

Ich bin bilingual aufgewachsen und hatte schon immer eine Faszination für Sprachen. In der Schule wählte ich alles an Sprachen was möglich war und besuchte nachmittags Gebärdensprachkurse an der VHS. Anfangs nur aus Neugier, mit der Zeit jedoch verstärkt mit dem Hintergedanken, nach dem Abitur einen Beruf auszuwählen, der mit der deutschen Gebärdensprache zusammenhängt. Schließlich entschied ich mich für das Studium Gebärdensprachdolmetschen, da ich die Tätigkeit des Dolmetschens schon immer sehr mochte und ich mir den beruflichen Alltag als Dolmetscherin sehr spannend vorstellte. 

Umzug, Veränderung, Zweifel

Die größte anfängliche Herausforderung war der Umzug in ein anderes Bundesland, weit weg von meiner Familie und meinen Freunden. Ich machte mir Sorgen darüber, ob es überhaupt das Richtige sei und ob es sich lohnen würde, für ein Studium so eine große Veränderung auf mich zu nehmen. Was wenn alles ganz schrecklich werden würde? Oder was wenn ich mich falsch entschieden hatte? Was wenn Gott eigentlich etwas ganz anderes für mich vorgesehen hatte und ich woanders viel glücklicher werden konnte? All diese Gedanken schwirrten mir im Kopf herum und begleiteten mich während der ersten beiden Semester. Es kam viel zusammen: die hohen Erwartungen der Dozenten, Heimweh, das Einfinden in eine neue Stadt, in eine neue Menschengruppe, das Kennenlernen einer neuen Kultur – der Gehörlosenkultur, Leistungsdruck in Bezug auf Noten und die ständige Frage: Bin ich hier richtig? 

Einige Dinge wurden mit der Zeit besser. Ich fand neue Freunde, neue Hobbys und begann mich einzuleben. Doch die Gedanken, nicht gut genug zu sein und die Angst davor, im Studium und zukünftig auch im Beruf zu versagen, blieben.

Meine „Wahrheit“ ist nicht die Wirklichkeit

Die größte Lüge, dich ich irgendwann als meine eigene Wahrheit zu glauben begann war, dass Fehler, die ich mache bedeuteten, dass ich das, was ich versucht habe, niemals können werden. Das Dolmetschen an sich ist schon eine sehr komplexe kognitive Aufgabe. Dazu ist das Verhalten und die „Rolle“ des Dolmetschers ebenfalls sehr vielfältig und komplex. Es ist also ganz normal, dass man nicht von Anfang an alles perfekt macht und Fehler an der Tagesordnung sind. Aber meine „Wahrheit”, die Fehler mit Versagen gleichsetzte – saß so tief in mir, dass ich mir manchmal wie gelähmt vorkam. Ich wollte es doch gut machen. Dazu hatte ich doch schon so viel Zeit in das Erlernen der Sprache investiert. Ich dachte, ich hätte meinen zukünftigen Beruf gefunden. Warum konnte ich es denn dann nicht? Dieser Monolog war mein Alltag. Das ständige Hinterfragen meiner Leistung, meines Wertes und meiner Entscheidung, dieses Studium zu beginnen. 

Ich bestand zwar alle Prüfungen und machte Fortschritte, aber die Fehler und das wenig konstruktive Feedback mancher Lehrkräfte setzte mich unter sehr großen Druck. In den Wochen vor meinem Praxissemester war ich unglaublich nervös, weil ich wusste, dass ich bald in der „echten Welt“ dolmetschen musste. Für echte Kunden. In echten Situationen. Nicht in Übungen im vertrauten Kreis meiner Kommilitonen. Ich ging mit der Einstellung ins Praktikum, dass ich wahrscheinlich nach einem Tag weggeschickt würde, weil ich nicht gut genug bin. Tatsächlich hielt ich dieses Szenario für sehr plausibel und wahr. 

Wenn man sich das alles so durchliest, könnte man sich vielleicht denken: „Warum übertreibt sie denn so? Es ist doch logisch, dass Fehler menschlich sind und man nicht alles perfekt können kann. Da hätte sie sich ziemlich viel Stress und Schmerz gespart, wenn sie eine andere Einstellung gehabt hätte.“ Ja, das stimmt vielleicht. Aber das ist das tückische an unseren Gedanken. Wenn man diese Lügen, die gegen einen selbst schießen zu oft wiederholt, können sie zur eigenen „Wahrheit” werden. Und es kann ziemlich schwierig sein, diese Unwahrheiten zu enttarnen. 

Der erste Schritt zur Wahrheit

Schließlich war ich mit einer unglaublich tollen Praktikumsstelle gesegnet, in der ich auf Menschen traf, die mir meine Angst nehmen konnten. Sie brachten mir bei, wie wichtig Fehler für den Lernprozess sind und dass ich geduldig mit mir sein darf. Während des Praktikums habe ich eine Lockerheit erfahren, die den Stress des Dolmetschens reduziert. Es geht nicht darum schlecht zu arbeiten, oder sich keine Mühe zu geben. Es geht darum, mit sich selbst so barmherzig zu sein, dass ein Fehler nicht direkt ein Urteil über eigenes Versagen bedeutet. 

Das Studium hat natürlich auch meinen Glauben beeinflusst. Denn auch in diesem Bereich hatte (und habe) ich dieses Leistungsdenken und das ständige Hinterfragen. „Bete ich wirklich genug? Müsste es nicht besser sein? Ich bin die schlechteste Katholikin, die es je gab“. Auch das sind Gedanken, die selten etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben. Sich selber zu hinterfragen, sich zu bessern und Ansprüche an sich zu haben, all das ist wichtig und unverzichtbar für eine Entwicklung. Aber egal ob auf der geistigen oder auf der akademischen Ebene: es kommt auf das Maß und auf den Umgang an. Barmherzig und geduldig mit sich selber zu sein – so wie Gott es immer und unverändert mit mir ist – hat mir geholfen meine Ängste und Lügen-Wahrheiten anzugehen und sie zu enttarnen. Denn wenn Gott liebevoll auf mich blickt, warum tue ich es dann nicht auch?