Es ist alles andere als klar, was mit dem Begriff der Wirklichkeit eigentlich gemeint ist. In einer ersten Annäherung ließe sich sagen, dass all das, was wirklich ist, auch existiert. Viele moderne Zeitgenossen behaupten, dass uns die Naturwissenschaften am besten sagen können, was wirklich ist. Die Naturwissenschaften stellen sozusagen den Königsweg zur Wirklichkeit und entsprechenden wahren Aussagen darüber dar. Demgemäß kann den Geisteswissenschaften, der Philosophie, der Theologie oder unserem Alltagsverständnis bestenfalls ein bedingtes Mitspracherecht bei der Deutungshoheit unserer Wirklichkeit eingeräumt werden.
Haben Naturwissenschaften die alleinige Deutungshoheit über die Wirklichkeit?
Eine solche Deutung der Wirklichkeit wirft eine Reihe von Anfragen auf. Zwei möchte ich kurz aufgreifen. Eine erste wissenschaftstheoretische Anfrage kann darauf verweisen, dass wissenschaftliche Fragestellungen, Datenerhebungen und Auswertungen immer in einem spezifischen hermeneutischen Kontext stehen. Wer Wissenschaft betreibt, nähert sich stets mit einem bestimmten Verständnishintergrund einer wissenschaftlichen Frage. Erhobene Daten sind niemals rein objektive Informationen; Befunde können auf unterschiedliche Weise interpretiert werden; die Welt ist meist zu komplex für eindeutige Handlungsanweisungen. Dies hat uns die derzeitige Pandemie auch schmerzlich erfahren lassen.
Diese Uneinigkeit unter Vertretern verschiedener involvierter Wissenschaftsdisziplinen hat zu erheblicher Frustration, wenn nicht sogar zu einem maßgeblichen Vertrauensverlust in die Wissenschaft geführt. Subjektiv betrachtet ist eine solche Reaktion durchaus verständlich, da unklar ist, welche Aspekte der Wirklichkeit wirklich „wirklich“ und handlungsrelevante Größen sind; unter wissenschaftstheoretischer Rücksicht ist eine allzu große Einigkeit aber letztlich nicht zu erwarten: Schließlich spielen neben naturwissenschaftlichen Parametern, psychologische, soziale, wirtschaftliche oder konkret medizinisch-praktische Faktoren eine gewichtige Rolle. Unsere Welt ist zu komplex, bunt und unscharf für eindeutige Antworten.
Eine problematische Komplexitätsreduktion
Dies bringt mich zur zweiten Anfrage: Der Vorschlag, das, was wirklich sei, haben uns alleinig oder vornehmlich die Naturwissenschaften zu sagen, ist offenbar mit einer problematischen Komplexitätsreduktion verbunden. Der Mensch ist nicht nur ein naturwissenschaftlich bestimmbarer Gegenstand, sondern ein mit Rationalität ausgestattetes und sozial orientiertes Wesen, das Sinn sucht und Sinn schafft. Menschen leben nicht einfach, sondern sie setzen sich zu ihrem Leben in ein Verhältnis. Der Philosoph Helmuth Plessner spricht deswegen von der exzentrischen Organisationsform des menschlichen Lebens, weil der Mensch offensichtlich als einziges Lebewesen „aus seiner Existenz heraustreten“ und sich reflektierend dazu verhalten kann: Was ist der Sinn meines Lebens? Was trägt mich in meinem Leben? Gibt es mehr als nur das, was wir mit den Sinnen wahrnehmen können? Selbst wenn wir nicht in der Lage sind, auf diese und ähnliche Fragen eindeutigen Antworten zu geben, handelt es sich um Fragen, die im Leben mal drängender in den Vordergrund treten, mal leiser im Hintergrund mitschwingen.
Es ließe sich an dieser Stelle natürlich sagen, dass wir uns ja auch bemühen könnten, solchen Fragen aus dem Weg zu gehen, weil es sich letztlich um nicht beantwortbare – und somit offenbar sinnlose – Fragen handelt. Und vielleicht gibt es in der Zukunft ja technologische Verfahren, durch welche wir unseren Geist so manipulieren können, dass derartige Fragen nicht mehr auftauchen? Wer sich diesen Fragen grundsätzlich verschließen möchte, so meint der Theologe Karl Rahner, will den Menschen zurückführen auf die Stufe eines technisch intelligenten Australopithecus ohne jegliches Bewusstsein für den Horizont der Transzendenz oder für die Möglichkeit eines Dialogs mit Gott. Diese freie Auseinandersetzung mit den letzten Fragen unseres Daseins zeichnet den Menschen gerade aus. Hier ist auch die Frage nach der Existenz Gottes zu verorten.
Ist Gott wirklich?
In der abendländischen Philosophie- und Theologiegeschichte wurde auf verschiedene Weise versucht, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Die sogenannten Gottesbeweise stellen Argumente dar, welche die Möglichkeit der Existenz Gottes plausibilisieren wollen. Nota bene: Es handelt sich um Argumente, nicht um Beweise in einem strikten mathematisch-naturwissenschaftlichen Sinn. Diesen Argumenten kann ich aus subjektiven Gründen zustimmen oder nicht, d. h. das Moment des „persönlichen Mitgehens“ ist zentral. Der Anspruch der sogenannten Gottesbeweise ist es also, durch philosophisches Nachdenken aufzuzeigen, dass es durchaus gute Gründe für die Annahme der Existenz Gottes gibt (so wie es natürlich auch gute Gründe dagegen gibt).
Worum es letztlich geht, ist intellektuelle Redlichkeit: Gründe für und wider eine Option abwägen und im Lichte dieser Gründe die eigenen existentiellen Überzeugungen zu reflektieren, macht uns erst zu jenen rationalen Wesen, die sich als radikal offen und frei im Hinblick auf die eigene Lebensgestaltung und Letztdeutung der Wirklichkeit erfahren. Sich in diesem Kontext auch mit der Wirklichkeit Gottes zu beschäftigen, ist Ausdruck dieser Offenheit und Freiheit. Dabei keine Letztantworten geben zu können, die unser Fragen endgültig verstummen lassen, ist kein Hals- und Beinbruch. Im Gegenteil: Die Theologie lehrt uns, dass Gott – wenn es Gott gibt – der unverfügbare, geheimnisvolle und ewige Fluchtpunkt unserer Existenz ist.