Thema · Manipulation im Namen Gottes

Was ist spiritueller Missbrauch?

In dieser Folge von Credo Talk sprechen wir mit Frau Dr. Barbara Haslbeck über spirituellen bzw. geistlichen Missbrauch. Frau Dr. Haslbeck ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Gewalt gegen Frauen in der katholischen Kirche” an der Fakultät Katholische Theologie der Uni Regensburg und Mitherausgeberin der Publikation „Erzählen als Widerstand”. Mit diesem Beitrag schließen wir unsere Reihe „Orientierung – Fixsterne und Irrlichter”.

von Raphael Schadt · 04.04.2023

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Der Credo Talk auf Youtube mit Frau Dr. Barbara Haslbeck.

Credo: Was ist spiritueller Missbrauch und was nicht? 

Dr. Barbara Haslbeck: Am besten versteht man, was geistlicher Missbrauch ist, wenn man Betroffenen zuhört. Sie haben ja gerade schon auf das Buch „Erzählen als Widerstand” verwiesen. Darin berichten 23 Frauen über Missbrauch, den sie als Erwachsene in der katholischen Kirche erlebt haben: sexuellen Missbrauch, meistens kombiniert mit spirituellem Missbrauch. Es sind aber auch Geschichten dabei, in denen es ausschließlich um spirituellen Missbrauch geht. 

Daraus würde ich gerne erzählen von Miriam Leb (ein Pseudonym). Sie berichtet als Ende 30-jährige über Erfahrungen, die sie als junge Frau gemacht hat. Daran ist sehr gut zu verstehen, worum es geht, wenn wir von spirituellem Missbrauch sprechen. 

Miriam ist Schülerin, 18 Jahre alt und erkennt für sich, dass ihr die katholische Kirche sehr viel bedeutet. Sie fühlte sich stark zu Gott hingezogen, geht täglich zum Gottesdienst und entdeckte eine Welt, die für sie ganz wertvoll ist. Kurz vor dem Abi lernt sie das Mitglied einer Gemeinschaft kennen, eine Schwester, die sehr um sie wirbt: Sie wird eingeladen zu Veranstaltungen, darf dort in der ersten Reihe sitzen und bekommt Besuche zu Hause von Mitgliedern der Gemeinschaft.

Schließlich tritt sie ein. Dort hört sie von einer Oberin: „Ja, also, wenn du in unsere Gemeinschaft eintreten willst, musst du erst mal deine Talente und das, was dir wichtig ist, aufgeben.” Es fühlt sich für sie schon etwas eigenartig an, aber sie versucht es und geht diesen Weg. Sie spürt den Ruf, dieses Besondere, das in ihr steckt, zu verwirklichen und erlebt aber in der Gemeinschaft, dass es schwierig ist. Sie denkt dann: Vielleicht ist diese Gemeinschaft ja einfach die falsche. 

Sie tritt wieder aus, spürt aber weiterhin den starken Wunsch, einen besonderen Weg zu gehen und tritt in eine weitere Gemeinschaft ein. Und dort gerät sie über Jahre in starke Abhängigkeit von einem geistlichen Begleiter. Sie kommt schrittweise unter einen ungeheuren Leistungsdruck mit einem enormen Pensum an Gebetszeiten und Aufgaben im Alltag. Die normalen Dinge des Alltags werden dort als Übungen des Gehorsams und der Hingabe gedeutet: „Ich war so müde. Ich war es nicht gewohnt, so wenig zu schlafen. Der geistliche Begleiter sagte: Ja, das tun wir aber alle. Das ist Zeichen des Gehorsams.”

Sie erlebt beispielsweise in der Beichte, dass sie keine Absolution bekommt: Sie sei nicht demütig genug, sie sei hochmütig. Abends bekommt sie Textnachrichten: „Wenn du heute Nacht stirbst, kommst du in die Hölle.” Das Szenario, wie Gott ihr in dieser geistlichen Begleitung entworfen wird, ist sehr bedrohlich. Es ist eindrucksvoll und erstaunlich, wie diese junge Frau nach Jahren schließlich erkennt: Hier stimmt etwas nicht! Das kann nicht meine Berufung sein, so beschnitten, zerstört und im Namen Gottes manipuliert zu werden. Sie tritt aus und rekonstruiert dann in einem langen Prozess, was mit ihr geschehen ist. 

In dieser Geschichte wird deutlich: Spiritueller Missbrauch bedeutet, dass spirituelle Inhalte verbrämt benutzt werden, um Menschen zu Marionetten zu machen. Betroffene verwenden immer wieder dieses Bild. Inge Tempelmann beschreibt das erstmalig bei Freikirchen, wie Gedanken umgeformt werden. „Gott will, dass wir verzichten, auf Schlaf, auf den eigenen Willen, auf das eigene Ich, dass wir so wenig wie möglich ‚ich‘ sagen. Wir sind gut, wenn wir Marionetten sind, die alle so funktionieren, wie die Gemeinschaft es erwartet.” 

Credo: Furchtbar! Was sind Alarmsignale für spirituellen Missbrauch und ab wann muss man aktiv werden?

Haslbeck: Es gibt Themen, bei denen ich aufhorche: Wenn Menschen mir berichten, dass sie sich in in einem System befinden, in dem ein starkes Schwarz-Weiß-Denken herrscht: Hier die Gemeinschaft der Berufenen, der Ort, an dem die Guten sind und „das Licht“, und im Kontrast dazu die Welt draußen, da wo das Böse ist. 

Dazu kommt oft ein elitäres Bewusstsein. Der Eindruck „wir sind etwas Besonderes”, der meist mit einem enormen moralischen Leistungsdruck einhergeht: Besonders viel zu beten, zu beichten, auf besonders viel zu verzichten – teils mit Fastenübungen, die auch gesundheitlich bedenklich werden können – anders als die Welt zu sein, auch im Umgang mit Beziehungen, mit Sexualität. Ein Leistungsdruck, Idealen zu genügen, die nicht immer realistisch sind und auch nicht dem entsprechen, was die biblischen Gründungsdokumente uns vorgeben.

Ein weiteres Alarmsignal ist, wenn Personen beginnen, ihre sozialen Bezüge sehr zu verändern. Wenn ihnen Kontakte zur Herkunftsfamilie oder zu den alten Freunden verboten werden.

Mir ist wichtig, dass Menschen im Glauben auch Zweifel, Klage, Widersprüchliches und Unheiles sagen dürfen. Nicht umsonst ist unsere Bibel ja voll von Klagetexten. Wenn Menschen in bestimmten Gemeinschaften Nachdenkliches, Kritisches oder Widersprüchliches nicht äußern dürfen, dafür aber in ständiger „Halleluja-Stimmung” sind, sehe ich Alarmsignale, weil da ein Teil des Lebens ausgespart wird.

Credo: Wer ist besonders gefährdet, in so eine Situation zu geraten? 

Haslbeck: Wenn ich davon spreche, dass Menschen besonders gefährdet sind, will ich dem vorausschicken: Es geht nicht darum zu sagen, sie sind sozusagen selbst schuld, dass sie in Situationen geraten sind, in denen sie geschädigt wurden. Es geht darum, dass Kirchenverantwortliche mit besonders viel Sorgfalt agieren müssen, wo junge Menschen im Glauben sich begegnen und öffnen. Es geht darum gut hinzuschauen: Was wird da angeboten? Damit junge Menschen nicht um eine freie Entscheidung betrogen werden oder Entscheidungen treffen, die sie später vielleicht bereuen.

Eine zweite Personengruppe, die ich als besonders gefährdet wahrnehme, sind Menschen in Krisen, die bereits als Kinder schwierige Erfahrungen gemacht haben (Missbrauch oder ähnliches), die im Erwachsenenalter merken, da ist eine tiefe Verletzung in ihnen und die sich auf die Suche machen nach etwas, was sie trägt, bzw. nach Menschen, die sie aushalten. 

Wenn sie dann an Menschen geraten, die einfache Lösungen und spirituelle Trostpflaster anbieten und sagen: „Du musst nur vergeben” oder „du musst dich nur Jesus anvertrauen”, da wird es für Menschen in gravierenden Lebenskrisen gefährlich. Davon gibt es in der katholischen Kirche leider nicht wenige. Ich beobachte, dass Menschen völlig naiv, unter mangelnder Berücksichtigung psychotraumatologischer Mechanismen, begleitet werden. Das fühlt sich zwar kurzfristig gut an und man hat den Eindruck: „Ja, jetzt habe ich den Segen. Jetzt bin ich ein Kind Gottes und habe das Alte hinter mir gelassen.” Aber solche Versprechen von Heilung lassen sie dann auch erneut verletzt oder gar retraumatisiert zurück. Dann bleibt noch der Eindruck, sie hätten nicht genug gebetet, vergeben oder geglaubt. So quasi „als Versager” zurückzubleiben, das macht es für Betroffene noch schwerer.

Credo: An wen kann sich jemand wenden, der sich in den Schilderungen von spirituellem Missbrauch wiedererkennt? 

Haslbeck: Ich glaube, im dem Moment, in dem jemand merkt: „Oh, hier läuft etwas komisch”, da ist das Wichtigste schon geschehen. Menschen, die schweren spirituellen Missbrauch erlebt haben, brechen emotional und auch physisch oft regelrecht zusammen. Die sind tatsächlich am Ende ihrer Kräfte. Mir berichten Menschen – auch wo es weniger schlimm wurde – dass sie eigentlich innerliche Widerstände wahrnehmen konnten. Und deswegen halte ich es für ganz wichtig, diese körperlichen Symptome, das, was sich in mir regt, ernst zu nehmen. Diese Personen gilt es zu stärken, dass sie der eigenen Wahrnehmung wieder trauen. Und das geht leichter, wenn sie mit Menschen sprechen, die außerhalb der Gruppe, der Begleitungssituation, der Gemeinschaft oder des Systems stehen. 

Es gibt die Anlaufstelle der Deutschen Bischofskonferenz für Frauen, die als Erwachsene geschädigt wurden, wo zu spirituellem Missbrauch beraten wird. Und es gibt in jedem Bistum Verantwortliche für den Bereich der geistlichen Begleitung, die inzwischen sehr sensibel geworden sind für das Thema. Da ist es gut, sich eine Person zu suchen, mit der man sich sortieren kann: Was ist da eigentlich mit mir passiert? Wie kann ich wieder selbstbestimmt sein? Wie kann ich mir selbst wieder trauen, meine eigenen Entscheidungen treffen und frei sein?

Credo: Frau Dr. Haslbeck, Ich danke Ihnen für das Gespräch.