Frau Prof. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz war Inhaberin des Lehrstuhls für Religionsphilosophie und Vergleichende Religionswissenschaft der TU Dresden von 1993 bis 2011. Seither ist sie Leiterin des Instituts EUPHRAT an der Philosophisch-theologischen Hochschule Benedikt XVI in Heiligenkreuz bei Wien.
Thema · Credo Talk mit Prof. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
… und zu unserem Heil
von Raphael Schadt · 10.02.2025
Credo: Im großen Glaubensbekenntnis ist der Satz enthalten: „Für uns Menschen und zu unserem Heil ist er vom Himmel gekommen”. Was beinhaltet im christlichen Verständnis der Begriff Heil?
Prof. Gerl-Falkovitz: Man versteht es sehr schnell, wenn man vom Gegenteil kommt: Alle Religionen sprechen vom Unheil. Es ist ja tatsächlich ein riesiges Unglück, in dem wir stecken. Wir kennen in unserer Tradition die große Erzählung vom „Sündenfall“. Und letztlich gibt es in jeder Religion alte mythische Erzählungen oder Erklärungsversuche, warum das Dasein so verworren ist. Immer steckt am Anfang eine Art Webfehler. Erbsünde. Daran muss man nicht einmal glauben. Man braucht nur aufmerksam durch die Fußgängerzone zu gehen, um zu erkennen, dass im Menschen irgendetwas verrutscht ist.
Aber jetzt zum Gegenteil bzw. der Frage: Wie kommt man aus dieser Verworrenheit heraus? Im Wort Heil steckt Heilung, „das Ganze”, „whole” im Englischen. Heilen heißt ganz werden aus einem Zerbrochenen. Das Christentum nimmt sich dessen in einer besonderen Weise an, weil es eine umfassende Vision hat von Heil. Es hat etwas zu tun mit einer Gesundung von Grund auf. Das ist ein Versprechen, ein Angebot.
Credo: Wenn Jesus vor 2000 Jahren heilte, strömten Massen zusammen und er musste auf den See ausweichen, um nicht erdrückt zu werden. Heute gewinnt man eher den Eindruck, dass alle vor der Kirche, die doch das Heil Christi verwaltet, fliehen. Wieso?
Gerl-Falkovitz: Ja, offensichtlich liegt vor der Heilung eine Sperre. Ist die Botschaft so dargestellt, dass man sie überhaupt versteht? Ist bei diesem Versprechen eigentlich klar, worum es von Christus her gesehen, geht? Ist die Sprache dazu da? Gibt es Menschen, die das so vertreten, dass man das Gefühl hat, sie wissen, wovon sie reden und glauben selber daran? Der Arzt, der seine eigene Medizin verabreicht, muss schon überzeugt sein von der Wirkung dieser Medizin.
Das ist ein Punkt, der für mein Leben viel bedeutet hat: Wo kann man Unheil loswerden? Es geht ja nicht so einfach plötzlich in eine neue Welt. Welchen Schritt muss ich tun, um meinen Schutt anzuschauen und wegzuräumen? Und wie finde ich schließlich in eine andere Zustimmung zum Leben, eine Form von Hoffnungen und Zutrauen? Diese Hoffnung hat ein Gesicht, das Gesicht Jesu.
Credo: Mir scheint, dass wir in der Kirche in Deutschland die Lösung für Probleme wie etwa Machtmissbrauch etc. in strukturellen Veränderungen suchen. Letztlich in Leitplanken und Korsetten. Ist das das Heil, das Christus sich vorgestellt hat?
Gerl-Falkovitz: Ob im Recht, in der Politik oder in der Kirche, Strukturen setzen grundsätzlich voraus, dass es Menschen gibt, die in der Struktur Verantwortung übernehmen. Es braucht Menschen, die Strukturen nicht nur formal befolgen, sondern sich tatsächlich hineinstellen und das auch von sich her formulieren. Und das ist nicht zwingend gegeben. Strukturen können genauso ein Versteck sein, um sich dahinter zu verbergen. Man kann formal alles richtig tun, aber sich selbst nicht einbringen.
Ein Beispiel aus der Rechtsprechung: Die Mauerschützen an der alten deutsch-deutschen Grenze beriefen sich auf den Schießbefehl. Sie hatten formal gehorcht, wurden aber trotzdem verurteilt, und zwar mit dem Begriff der Verantwortung. Strukturen sind also per se keine Absicherungen. Auch in solchen formalen Vorgaben muss der Einzelne wissen, was und wie er etwas tut, und er muss es mit bester Absicht tun.
Solange Strukturen Einfallslosen als Versteck dienen, werden sie keine Änderung bringen. Strukturveränderungen müssten mit Herzensveränderungen einhergehen. Denn im Herzen findet der Entschluss statt, sich in eine große Aufgabe einzufügen. Und das muss man persönlich ergreifen. In der Struktur dagegen fehlt die Person. Sicher, Strukturänderungen bringen etwas in Gang. Aber wenn es die Menschen nicht gibt, die diese Prozesse mit Leben füllen, wird man sich noch lange mit Strukturänderungen aufhalten können.
Credo: Das spricht für ein individuelles Ergreifen dieser Vision. Muss sich letztlich jeder selbst vor Gott verantworten, oder ist eine Veränderung der Herzen „kirchlich-behördlich” organisierbar?
Gerl-Falkovitz: Natürlich besteht die Kirche aus Individuen, aber nicht nur. Die Kirche selbst ist ein Leib. Das bedeutet, dass wir voneinander Kraft bekommen. Sie ist Mutter. Da kommt alles her, was uns zusätzlich zu unserer eigenen Tätigkeit mit Leben und und Kraft versorgt. Die Einzelkämpfer sind es nicht, die schaffen es auch nicht.
Credo: Heiligung bzw. Heilwerden geschieht in Gemeinschaft. Ich hatte die Gelegenheit, einige geistliche Gemeinschaften kennenzulernen, viele davon in meiner zweiten Heimat Frankreich, die sich besonders hart vorgenommen hatten, heilig zu werden und die darin mitunter krachend gescheitert sind und Katastrophen zutage gefördert haben. Wo ist hier der Weg, heil zu werden?
Gerl-Falkovitz: Wo Leben ist – und das ist ja in diesen Gemeinschaften sehr intensiv – können auch Beschädigungen stark eingreifen, weil dort eine hohe Erwartung bzw. ein großes Versprechen ist. Man könnte es auch als Zeichen von Lebendigkeit lesen. C.S. Lewis würde sagen: Wo greift der Böse an? Nicht da, wo alle schon schlafen, sondern eben dort, wo etwas los ist. Das macht es natürlich nicht besser und die Frage ist: Wie bekommt man das in den Griff? Die Kirche ist in vieler Hinsicht immer wieder an solchen Dingen bestraft worden.
Dennoch: Die Tatsache, dass wir scheitern, zeigt, dass wir auf einem Weg sind, der viel verspricht aber auch risikoreich ist. Es gibt dieses alte Bild des Mönchs, der auf der Himmelsleiter aufsteigt, wo ihn oben die Paradiesespforte erwartet. Aber die vorletzte Stufe ist die schlimmste. Sie ist völlig schlüpfrig, fast jeder versagt auf ihr und der Sturz ist dort am tiefsten. Das muss man wissen. Man könnte sagen, dann steigt man lieber gar nicht hoch. C.S. Lewis sagt: Wo Lebendiges ist, wächst die Gefährdung des Lebendigen. Da müsste die Kirche – also wir – ihre Weisheit ins Spiel bringen. Und ich denke, viele Gemeinschaften, die das erfahren haben, werden wiederum für andere eine Gegenwehr aufbauen. Die Kirche ist eine lange Lerngemeinschaft.
Credo: Gerade wenn die letzten Stufen die schwierigsten sind: heil sein zielt ja auf Vollkommenheit. Wie entspricht man der Aufforderung Christi, vollkommen zu sein, wie der Vater?
Gerl-Falkovitz: Ja, die Forderung Jesu scheint absurd, dieses Ziel läuft ja beständig vor uns weg. Andererseits sind die Imperative Jesu ernst gemeint. Er macht ja keine Kinderspäße. In jedem Imperativ steckt ein Versprechen. Man kann ja nichts befehlen, das überhaupt nicht zur Diskussion steht.
Also welcher Zug zieht hier, um Vollkommenheit anzuzielen? Folgender Gedanke führt glaube ich zum Heil: Wenn der Befehl Jesu stimmt, können wir mit Vertrauen erwarten, dass noch eine Macht eingreifen wird, die diese Bewegung in Gang setzt und zieht. Viele Worte Jesu sind überhaupt nur einlösbar, wenn es diese Kraft gibt.
Solange wir glauben, dass wir selbst es tun, bleibt das schlechte Gewissen permanenter Begleiter, weil wir es nicht schaffen. Therese von Lisieux sagte einmal: Wir brauchen nur den kleinen Fuß heben und er holt uns schon. Vielleicht reicht das bereits. Vielleicht nicht immer. Deswegen muss man es auch ein Leben lang tun. Aber mit dieser Anfangsgeste kann es sein, dass sich etwas einspielt.
Credo: Die fünf Brote und zwei Fische.
Gerl-Falkovitz: Genau. Und dann bleiben zwölf Körbe übrig.