Thema · Gottes Offenbarung in der Tradition
Schrift und Tradition – die zwei Lungenflügel der Kirche
von Benedikt Bögle · 19.10.2022
Als Martin Luther 1517 seine 95 Thesen veröffentlichte, änderte sich die kulturelle, politische und religiöse Landschaft Europas. Eine neue Lehre brach mit der römischen Kirche und entwickelte neue theologische Standpunkte. Eines der wichtigsten Schlagworte der Reformation lautete „sola scriptura“: Nur noch die Heilige Schrift sollte verbindlich sein. Die lange Tradition der Kirche spielte dagegen nur noch eine untergeordnete Rolle.
Für die Theologie und das Leben der Kirche war das eine große Herausforderung. Die Reformation wurde auch für die katholische Kirche zur Krise, die eine vertiefte Reflexion herausforderte: Wie steht es um die Tradition? Ist sie nur schmückendes Beiwerk oder elementar für den Glauben der Kirche?
Kann man Schrift und Tradition voneinander trennen?
Das Konzil von Trient (1545-1563) reagierte auf die Reformation: Dort schrieben die Konzilsväter, dass „Wahrheit und Lehre in geschriebenen Büchern und ungeschriebenen Überlieferungen enthalten sind“. Eine Absage an „sola scriptura“, ein Bekenntnis zur Tradition. Es gibt also eine einzige Wahrheit, die auf zwei Wegen vermittelt wird: In der Heiligen Schrift und in der Tradition der Kirche. Beide sind die Lungenflügel der Kirche, die sich nicht trennen lassen.
Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) griff das Thema erneut auf. Es stellte in der dogmatischen Konstitution „Dei Verbum“ (DV) fest, dass Schrift und Tradition eine Einheit bilden: „Demselben göttlichen Quell entspringend, fließen beide gewissermaßen in eins zusammen und streben demselben Ziel zu.“ (DV 9).
Danach sind Schrift und Tradition wie zwei Flüsse, die aus derselben Quelle fließen. Anders als „sola scriptura“ genießt die Bibel hier nicht den Vorrang: Sie ist nicht der große Strom, während die Tradition nur ein kleiner Zulauf sein darf. Beide gehören zusammen, können nicht voneinander getrennt werden und haben denselben Ausgangspunkt.
Hat die Tradition Angst vor Neuerungen?
Dahinter steht die Idee, dass sich das Wort Gottes nicht nur in der Schrift niedergeschlagen hat. Die Apostel haben das Wort Jesu gehört und es weitergetragen. Ihre Lehre hat sich zur Tradition der Kirche verdichtet und geht auf die Offenbarung Gottes zurück.
Bei der Tradition der Kirche geht es also nicht nur um den Wunsch, etwas so zu machen, wie man es immer schon getan hat. Wer sich auf die Tradition beruft, hat nicht einfach nur Angst vor Neuerungen: Er bekennt, dass auch die Tradition die Offenbarung Gottes weitergibt.
Für die theologische Debatte ist das von großer Bedeutung: Gerade im Augenblick sind viele Elemente der kirchlichen Lehre umstritten und werden etwa auf dem Synodalen Weg diskutiert. Wer sich an „sola sciptura“ hält und nur die Heilige Schrift für verbindlich hält, kann etwa den Zölibat der Priester, das Priestertum nur für Männer oder die katholische Sexualethik ändern, wenn die Bibel dem nicht entgegensteht.
Es bleibt aber aus katholischer Sicht die Tradition: Was sich in ihr entwickelt hat, ist eben nicht nur das Zeugnis vergangener Jahrtausende, sondern auch ein gleichwertiger Teil der Offenbarung Gottes.
Ist jeder Brauch auch Tradition?
Damit ist aber nicht gleich jeder Brauch in diesem Sinne „Tradition“ der Kirche. Das Lehramt – also der Papst und die Bischöfe – überliefern den Glauben der Kirche; sie bewahren ihn und geben ihn weiter. Zu dieser Tradition gehören etwa die Verehrung der Heiligen, die sieben Sakramente, die Feste der Kirche und die verkündeten Dogmen.
Dass beispielsweise Maria in den Himmel aufgefahren ist, findet sich nicht in der Bibel. Es ist aber der lange Glaube der Kirche, der von Papst Pius XII. als Dogma verkündet wurde. Die katholische Kirche braucht diesen Schatz der Tradition. Sie hört in ihr die Stimme Gottes.