

Es ist ein Donnerstagabend im Januar. Der Altarraum der katholischen Heilig-Kreuz-Kirche in der Augsburger Innenstadt ist stimmungsvoll beleuchtet. Die wöchentliche Abendmesse für junge Leute beginnt in andächtiger Stimmung, mit ruhiger Musik und Sologesang. Doch irgendetwas ist anders. Die Situation fühlt sich anonym an. Neben Maskenpflicht und Abstandsregeln fehlt ein wesentliches Element des gemeinsamen Gottesdienstes: der Gemeindegesang. Denn durch Musik entsteht Gemeinschaft – nicht nur in der Kirche. Man denke etwa an große Konzerte und die emotionale Verbindung, die im Publikum entsteht, wenn Zehntausende gemeinsam den Song ihrer Lieblingsband singen. Wie tief die Sehnsucht nach Gemeinschaft im Menschen verankert ist, wird durch Kontaktbeschränkungen und Social Distancing besonders deutlich. „In Präsenz“ ist in der Pandemie das Prädikat für ein Stück Normalität. Gottesdienste können in Präsenz stattfinden, dennoch ist in den Kirchen nicht alles „wie immer“.
In Heilig Kreuz wird mir erst beim gemeinsamen Schuldbekenntnis wirklich klar, dass ich nicht alleine in der Bank stehe. Das Gebet ist wie eine Absicherung: Wir sind eine Gemeinde und feiern hier und jetzt gemeinsam Gottesdienst. Antonina Waibel von der Jugend 2000 ist an diesem Tag für die musikalische Gestaltung verantwortlich. Begleitet von einer kleinen Band darf sie alleine singen – ein Privileg, wie sie betont. Und gleichzeitig fehlt ihr die Gemeinschaft in der Musik: „Es fühlt sich komisch an, alleine zu singen. Wir wollen die Leute schließlich mit der Musik ins Gebet führen.“ An manchen Stellen widerspricht der Sologesang dabei schlicht dem liturgischen Ausdruck. Etwa beim Sanctus, dem gemeinsamen Lobgesang von Gottes Herrlichkeit.
Gesang als Korrespondenz zwischen Priester, Kantor und Gemeinde
Ähnlich ergeht es Peter Bader, Kirchenmusiker in St. Ulrich und Afra. Er singt seit Wochen solistisch bei den Gottesdiensten in der Augsburger Basilika und berichtet, wie er sich an der Orgel zurückhält, um niemanden zum Mitsingen zu animieren. Dass er der Gemeinde seine Stimme leihen darf, ist für ihn Privileg und Verantwortung. Und doch sehnt er sich danach, dass bald wieder gemeinsam gesungen werden kann. „Durch die Korrespondenz zwischen Priester, Kantor und Gemeinde wird der Gottesdienst lebendig. Jeder hat seine Aufgabe. Im Moment darf die Gemeinde ihre Aufgabe aber nicht wahrnehmen. Ich glaube schon, dass die Teilnahme der Gemeinde dadurch eingeschränkt ist.“

Der gemeinsame Gesang zum Lob Gottes ist in unserem Glauben tief verwurzelt. Bereits Mose singt mit den Israeliten nach der Rettung vor den Ägyptern am Schilfmeer: „Ich singe dem Herrn ein Lied, denn er ist hoch und erhaben“ (Ex 15, 1). Spätestens seit König David ist der Gesang ein fester Teil des Gebets: „Alle Welt bete dich an und singe dein Lob, sie lobsinge deinem Namen!“, heißt es in Psalm 66. Dieser Appell gilt bis heute und wird in den Kirchen gelebt. Peter Bader schätzt den Gemeindegesang als besonders schöne Art, Gott zu loben: „Im gemeinsamen Singen zeigt sich eine unausgesprochene Einigkeit in der Freude an Gottes Lob.“
„Singen macht die Seele froh.“
Zurück in Heilig Kreuz. Nach der Abendmesse verlassen die Gottesdienstbesucher die Kirche. Viele haben es eilig, um rechtzeitig zur Ausgangssperre zu Hause zu sein. Doch einige nehmen sich noch einen Moment Zeit und schildern mir, wie es sich anfühlt, nicht mitsingen zu dürfen. „Es ist schon traurig“, sagt Moritz. „Für mich ist das wie ein Geburtstag, bei dem man kein Ständchen singen kann.“ David erzählt von seinem ersten Gottesdienst ohne Gemeindegesang: „Das hat sich komisch und traurig angefühlt. Ich habe mich wie ein Zuschauer gefühlt.“ Für Hildegard ist es deprimierend, nicht mitsingen zu dürfen: „Singen macht die Seele froh.“ Andere Gläubige haben sich mit der Situation arrangiert und ziehen daraus etwas Positives. „Es ist ja zum Glück nur vorübergehend“, sagt Matthias, „und ich kann mich dadurch auch besser auf die Texte konzentrieren.“ Die Chance, mehr in sich zu gehen, nimmt auch Veronika wahr: „So kann ich ohne Ablenkung ins Gebet kommen.“
Die Sehnsucht nach Gemeindegesang hat verschiedene Gesichter. Sie äußert sich in ungewohnter Passivität, dem Wunsch nach unbeschwerter Freude am Lob Gottes und kann gleichzeitig den Raum für andere Gebetsformen öffnen. Durch den Gesangsentzug entsteht eine Lücke, die in der Kirche förmlich spürbar wird. Es wird klar: Gebet, Gemeinschaft und Gesang gehören zusammen.