Thema · Social Distancing
Genug vom Bäume umarmen? Nähe geht auch mit Abstand
von Helga Kramer-Niederhauser · 08.05.2020
Nun liegen sieben Wochen mit erweiterten Ausgangsbeschränkungen hinter uns und viele Menschen haben sich daran gewöhnt, zu Hause zu lernen, zu arbeiten und das sogenannte social distancing zu leben. Doch wie geht es uns damit?
Wir sind es gewohnt, uns über WhatsApp, über Facebook, Skype oder am Telefon auszutauschen. Das ist jetzt nichts Neues – neu ist, dass der soziale Kontakt zu Freunden, zur Familie, zu Kolleginnen und Kollegen ausschließlich über diese Medien möglich ist. Und plötzlich fällt auf, was fehlt.
Ich kann niemanden mehr umarmen, ich kann niemandem mehr in die Augen schauen, ich kann den Duft eines lieben Menschen nicht mehr wahrnehmen…
Gerade all diese kleinen Zeichen von Nähe, von Vertrauen sind nicht mehr oder nur sehr eingeschränkt möglich. Eine junge Frau erzählt mir in der Telefonberatung: „Ich vermisse es, meine Freundin real sehen zu können, sie umarmen zu können. Ich vermisse es, einfach mal mit ihr ins Cafe gehen zu können, ins Kino.“ Ein junger Mann berichtet, er würde regelmäßig ins Fitnessstudio gehen, um seinen Körper fit zu halten, aber auch, um sich mit Gleichgesinnten auszutauschen: „All das fällt weg, ich habe Angst, mich mehr und mehr zu isolieren.“ Gerade Menschen, die regelmäßige Sozialkontakte brauchen, um sich nicht zurück zu ziehen, sind jetzt in der Gefahr, zu vereinsamen. Und Einsamkeit ist sehr belastend, wenn damit das Gefühl einhergeht, niemanden zu haben, der sich für einen interessiert.
Wer eher introvertiert ist, wer von sich aus nicht auf andere zugehen kann, tut sich jetzt auch damit schwer, aktiv zu bleiben, andere anzurufen, sich auszutauschen. Die zufälligen bzw. regelmäßigen Gelegenheiten (in der Mensa, im Fitnessstudio, in der Kirche), anderen begegnen zu können, fallen weg; wer von sich aus nichts unternimmt, bleibt jetzt noch isolierter.
Was ist zu tun? Wichtig wäre, sich gerade jetzt Unterstützung zu holen und mit einem guten Freund, einer guten Freundin, mit der Schwester oder dem Bruder regelmäßige Kontakte zu vereinbaren, also z. B. einen festen Zeitpunkt vereinbaren, zu dem ein Telefongespräch ansteht. Oder einen gemeinsamen Spaziergang planen (zu zweit möglich). Und sich auszutauschen darüber wie es einem geht, was gut läuft, was weniger gut läuft, was belastet, wofür man dankbar ist, was man vermisst. Ein Austausch über Gefühle und Bedürfnisse bringt uns einander näher und stärkt das Gefühl der Zugehörigkeit.
Wenn wir über Gefühle sprechen, minimiert das die Distanz
Das ist nicht für alle Menschen so einfach. Manche sind es überhaupt nicht gewohnt, von sich selber zu sprechen, statt Gefühlen und Erfahrungen werden Aktivitäten ausgetauscht. Da kann gerade nicht so viel erzählt werden, es sei denn, man arbeitet als Pfleger, als Krankenschwester, als Verkäufer, also in sogenannten systemrelevanten Einrichtungen. Es braucht Mut, sich zu öffnen, eigene Erfahrungen auszutauschen, über eigene Gefühle, Sehnsüchte zu sprechen. Doch es lohnt sich, es bringt uns einander näher und minimiert so den Abstand, den wir einhalten müssen.
Abstand bedeutet also nicht automatisch Distanz, auch im Abstand ist Nähe möglich, wenn ich mich öffnen kann. Und wenn das nicht gelingt? Dann gibt es hoffentlich Menschen, die gerade jetzt auf einen zukommen, die sich gerade jetzt überlegen, wer könnte sich einsam fühlen, wer neigt dazu, sich zurück zu ziehen. Das können wir alle jetzt tun: Wenn kann ich von mir aus kontaktieren? Wen kann ich zu einem Spaziergang einladen? Gerade die Natur kann uns jetzt Zuversicht vermitteln. So Vieles fällt aus, geht nicht mehr, doch es gibt noch Vieles, was bleibt: der Frühling ist gekommen, die Natur wird grün, die Vögel zwitschern, die Blumen blühen.