Credo: Wozu ist die Kirche ihrem eigenen Selbstverständnis nach, oder dem Auftrag Jesu nach da?
Katharina Weiß: Die genannten Punkte wie soziales Engagement etc. sind sicher wichtig, aber sie bilden nicht den Kern dessen, was Kirche ausmacht. Andere sind auch sozial tätig und da könnte man sich fragen, wozu braucht es die Kirche überhaupt noch.
Am Ende des Matthäus-Evangeliums, kurz vor der Himmelfahrt, sendet Jesus seine Jünger aus mit folgendem Auftrag: zu Jüngern machen, taufen, seine Lehre befolgen, lehren. Im Lukas-Evangelium sendet er zusätzlich die 72 aus: „Heilt die Kranken, die dort sind und sagt ihnen: Das Reich Gottes ist euch nahe!” (Lk 10,9). Diese Verkündigung, dass Gott nahe ist, ist Kern des Lebens Jesu gewesen und ist auch Wesenskern der Kirche.
Papst Paul VI. hat es so formuliert: Evangelisieren ist in der Tat die Gnade und eigentliche Berufung der Kirche, ihre tiefste Identität (Evangelii nuntiandi). Und er spricht, wie es bei den 72 angeklungen ist, von zwei Elementen: Vom Zeugnis des Lebens (das Soziale) und vom Zeugnis der Worte, der ausdrücklichen Verkündigung. Er sagt: „Dieses Zeugnis [des Lebens] ist niemals ausreichend, es muss auf Dauer entfaltet werden, sonst bleibt es unwirksam.” (vgl. Evangelii nuntiandi, 22) Diese beiden Facetten des Zeugnisses müssen immer in Verbindung mit Jesus Christus stehen. Kirche kommt vom griechischen kyriake, dem Herrn gehörig. Wenn wir die Verbindung mit Christus aufgeben, wird die Verkündigung leer oder es besteht die Gefahr des Aktionismus. Und dann droht die Caritas aus Eigennutz betrieben zu werden.
Credo: Diesen missionarischen Impuls, die Identität der Kirche, den sie in ihren Anfängen erlebte, sehen wir in der westlichen Welt aktuell immer weniger. Gibt es in Deutschland Orte, an denen die Kirche wächst?
Weiß: Zahlenmäßig ist es schwierig. In anderen Erdteilen gibt es durchaus Wachstum, etwa in Afrika, Süd-Amerika oder Asien. In Europa hören wir immer nur von hohen Kirchenaustrittszahlen. Aber auch hier gibt es Orte, an denen es Aufbrüche gibt. Das zeigt sich vielleicht nicht an vollen Kirchen, aber an veränderten Herzen. Wir erleben es bei Missionarischen Wochen, dass einzelne Menschen plötzlich so entzündet werden und sagen, ihre Beziehung zu Gott hat sich komplett verändert. Oder Aussagen zu unseren jungen Missionaren wie „ihr habt etwas, das ich nicht habe”. Das sind Momente, wo die Kirche auch wächst. Da müssen wir auch auf den Einzelnen und seinen Wert vor Gott schauen.
Natürlich wollen wir volle Kirchen. Wir wollen als Kirche ja auch „gut dastehen”. Ich glaube aber, dass diese Zeit uns auch Demut lehrt, dass letztlich nicht wir die Kirchen mit tollen Methoden füllen können, sondern, dass wir es Gott überlassen müssen zu wirken.
Credo: Du hast vorhin die Aussendung der 72 zitiert: „geht in die Städte”. Erreichen wir noch urbane Menschen? Oder machen wir, wenn wir von Evangelisierung sprechen, nicht doch wieder Vertiefungsexerzitien in den (ruralen) Milieus, die wir traditionell noch erreichen?
Weiß: Bei manchen sind es schon Vertiefungsexerzitien. Aber auch urbane Menschen schlagen bei uns auf. Ich hatte z.B. in meinem Religionsunterricht auch junge Menschen, die sagten, ich glaube nicht an Gott. Oder bei der Firmvorbereitung war bei jungen Menschen oft ein Elternteil ausgetreten oder konfessionslos. Diese kommen dann in Berührung mit der Kirche und wenn es gut läuft, erleben sie Menschen, die Glaubwürdigkeit ausstrahlen. Menschen, die das, wovon sie sprechen, auch zu tun versuchen. Auch wenn diese Leute dann nicht sagen „ah toll!“, so hinterlässt es doch einen Eindruck.
Credo: Ist das Evangelium in Deutschland schon allen angeboten worden? Ist die „Nachfrage” abgeklungen oder das Angebot gesättigt?
Weiß: Ich glaube, in unserer Diözese haben sehr viele zumindest einmal eine Grundverkündigung gehört. Aber haben sie das in glaubwürdiger Art gehört? Haben sie das als frohe Botschaft gehört oder als „Drohbotschaft“? Wie vermitteln wir das? Haben wir es so verkündet, dass Menschen es als tragendes Fundament in ihrem Leben erfahren? Viele haben nie so einen Botschafter, so einen Zeugen erlebt und sich dann abgewandt.
Credo: Die Frohe Botschaft ist ja auch nicht die vom Schlaraffenland.
Weiß: Wir müssen natürlich aufpassen, dass wir das Evangelium nicht verkürzen nach dem Motto: Wenn du das und das lebst, ist alles heile Welt. Entweder Leute sagen dann: Danke, brauche ich nicht, bei mir ist schon heile Welt. Oder es führt zu großen Enttäuschungen: Ich glaube und die heile Welt bleibt für mich aus. Wir verkünden es als eine Beziehung zu Gott, der größer ist, als diese Welt und weiß, was für uns gut ist.
Bei den Missionarischen Wochen, wenn wir bei Hausbesuchen nach Gebetsanliegen fragen, geht bei den einen das Herz auf und sie erzählen von sich und ihren Nöten. Andere wiederum sagen: „Nö, ich brauche nichts.“. Ich habe bei einem Vortrag einen Professor gehört, der sagte: Für immer mehr Menschen sind bestimmte Grundfragen des Lebens nicht mehr relevant. Wir beantworten Fragen, die nicht gestellt wurden. Unser Job ist trotzdem wie in Lk 10: „Verkündet, das Reich ist nahe.“
Aber in Kategorien von Angebot und Nachfrage zu denken ist eine Gefahr. Wir reduzieren es auf eine irdische Ebene. Darüber drohen wir zu vergessen, dass Gott mit im Spiel ist. Letztlich müssen wir es Gott in die Hände legen.