Infokratie
Wie organisiert sich Macht? Im industriekapitalistischen Regime war die Macht durch den Besitz der Produktionsmittel gesichert und durch Ausbeutung der Arbeitskraft des Menschen. Der Mensch wurde durch Isolierung sanktioniert und so „fügsam” gemacht. Heute, so kontrastiert Han, baut das Informationsregime seine Macht auf den Informationsvorteil, zur „psychopolitischen Überwachung” und Kontrolle.
Sanktioniert wird erst einmal nicht. Wir haben vor niemandem Angst. Das Gefühl der Freiheit sichert die Herrschaft, denn Freiheit wird auch nicht eingeschränkt, sie wird nur unbemerkt ausgebeutet. Das Smartphone ist das Unterwerfungsmedium, das wir konstant mit unseren Daten füttern. Wir stellen uns dar, produzieren uns und machen uns selbst freiwillig gläsern, so Han (S. 13).
Alles andere als transparent sind die Herrschaftsmechanismen dahinter, die Algorithmen, die unser Verhalten analysieren und uns bis ins kleinste Detail vorherzusagen suchen. Ist uns aber egal, denn der kleine Flaschengeist erfüllt uns viele Wünsche: Social Media, Smart-Home, Staubsauger-Roboter, Konsum. Er macht uns aber nicht frei und es bleibt auch nicht beim Erfüllen von Wünschen.
„Das Paradox der Informationsgesellschaft lautet: Die Menschen sind in Informationen gefangen. Sie legen sich selbst Fesseln an indem sie kommunizieren und Informationen produzieren. Das digitale Gefängnis ist transparent.” (S.13)
Dataismus – Demokratie in Gefahr
Entgegen vieler anfänglich optimistischer Euphorie habe sich das Internet nicht als Medium des Dialogs erwiesen, sondern, so Han, als Ich-Verstärker. Wer etwa Twitter von innen kennt, wird dem sicher zustimmen: Da hört keiner zu, jeder schreit in seine Echokammer, schließlich begegnet einem auch kein Gegenüber, mit dem man gemeinsamen Lebensraum gestalten müsste. Daran sind aber nicht allein Algorithmen schuld, es ist der narzistische Mensch selbst, der die Krise der Demokratie verursacht, so Han. Diskurs findet nicht mehr gemeinschaftlich, sondern nur noch in digitalen Echokammern statt. Demokratie – die Gestaltung des gemeinsamen gesellschaftlichen Lebens – lebt aber vom Diskurs, dem Aushandeln von Konventionen.
Dem „Dataisten” macht das aber nichts aus, denn Big Data und KI „hören besser zu” als Menschen, sagt Han. Und tatsächlich, ab einer bestimmten Anzahl von Klicks „kennt” der Social-Media-Algorithmus dich besser als dein Ehe-Partner, zitierten am 13.01.2015 zumindest verschiedene deutschen Zeitungen eine Stanford Studie. Machine Learning macht den mühsamen demokratischen Prozess obsolet. Social Physics optimieren gesellschaftliche Prozesse zum Wohle aller – schneller und besser. Das versteht Han verständlicherweise als Warnung vor der quasi religiösen Bewegung des Dataismus.
Aber Moment, wer sind Dataisten? Der Dataismus sieht die Gesellschaft als Organismus, dessen Organe funktionieren und dazu kommunizieren sollen –„wollen” dagegen ist nicht vorgesehen. Für Dataisten ist der Begriff „freier Wille” ohnehin lediglich Platzhalter für noch nicht berechenbares und vorhersagbares Verhalten aus der Zeit vor Big Data. Wenn alle zufrieden sind, wer braucht da noch Politik? – So in etwa würde Han es Dataisten in den Mund legen.
Der Zerfall der Wahrheit
Han sieht darüber hinaus aber noch ein weiteres Problem, das nicht nur für das demokratische Zusammenleben gefährlich werden kann. Er konstatiert eine Krise der Wahrheit, einen neuen Nihilismus: Denn die sich widersprechende Informationsflut produziert Misstrauen. Und nur ein Problem dieses Misstrauens ist, dass darin Verschwörungstheorien wunderbar gedeihen. Nicht weniger folgenreich aber scheint ihm, dass der Glaube an Fakten-Wahrheit an sich zerfällt. Eine Gesellschaft aber, die an keine gemeinsame Fakten-Wahrheit mehr glaubt, zerfällt in Interessengruppen, in Tribes. Demokratie setzt aber voraus, dass die Wahrheit gesprochen wird, dass es einen Willen zur Wahrheit gibt.
Wahrheit ist aber nicht Information, Fakten- oder Daten-Ansammlung. Wahrheit ist „narrativ und exklusiv“, Information dagegen „additiv und kumulativ“. Es gibt so etwas wie „Informationsmüll“. Wahrheit bildet aber keine „Haufen“, so Han. Die Flut an widersprüchlichen Informationen greift den Glauben an die Wahrheit selbst an.
Aber auch das ist kein Problem für Dataisten, denn deren Infokratie kommt nicht nur ohne Diskurs, sondern auch ohne Wahrheit aus. War der Mut zur Wahrheit noch Inbegriff der politischen Handlung – das Heroische, trotz aller Risiken die Wahrheit zu sagen, wie es etwa Sokrates bis zur letzten Konsequenz tat – erscheint sie, so Han, dem Dataisten wie ein aus der Zeit gefallenes Relikt. Platon verkörperte diesen Geltungsanspruch der Wahrheit – das Wahrheitsregime. Das Licht der Wahrheit, das in Platons Höhlengleichnis der aus der Höhle Befreite erkennt, durch das er auch seine Mitgefangenen befreien will, verblasst zur Reminiszenz. Der Befreiungsversuch endete übrigens auch schon im Gleichnis fast tödlich.
Im Blockbuster „Matrix" – eine moderne Adaption des platonischen Höhlengleichnisses – wacht der Protagonist nach Einnahme der blauen Pille in der Realität auf. Ein Bild für unsere Zeit?
Den selben Effekt sieht Han auch in unserer Zeit. Die digitale Höhle hält uns in Informationen gefangen. Das Informationsregime verdrängt das Wahrheitsregime. Das Licht der Wahrheit ist erloschen, seine Zeit ist vorbei.
Wahrheit zerfällt zum Informationsstaub, der vom digitalen Wind verweht wird.
Knappe aber schwere Kost
„Infokratie“ ist ein sehr knapp gehaltenes Buch aus der Reihe „fröhliche Wissenschaft” des Verlags Mattes & Seitz Berlin. Die Anmerkungen verweisen hauptsächlich auf Philosophen wie Arendt, Habermas, Foucault, Luhmann oder McLuhan. Für umfangreiche Verweise etwa auf Studien zu durch Social Media verursachte gesellschaftliche Veränderungen ist in dem knappen Buch kein Platz. Hans Einschätzungen zu den besprochenen negativen Medienphänomenen werden als gegeben vorausgesetzt.
Dennoch hat mir sehr gut gefallen, dass das, was unsereins als ungute Entwicklung ahnt, hier mit philosophisch-prophetischen Blick sehr weitsichtig formuliert wird – so düster dieser Ausblick auch ist. Lösungen bietet „Infokratie“ keine an und die letzten Zeilen des Buches klingen auch sehr fatalistisch. Darüber nachzudenken bleibt dem Leser überlassen.
Aber auch damit würde ich es allen empfehlen, die es genießen, aus einer Vogelperspektive in großen, groben Linien über Wirklichkeit, Wahrheit, Macht und Digitalisierung nachzudenken.
Der Autor
Byung-Chul Han, geboren 1959 in Seoul, hat in Freiburg i. B. und München Philosophie, deutschsprachige Literatur und katholische Theologie studiert und war Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin.
Han, Byun-Chul, „Infokratie” erschienen 2021 beim Verlag Matthes & Seitz Berlin, 100 Seiten, 10 €.